Kapitel 18: Das Archiv

Vor ein paar Wochen habe ich ein Smartphone gefunden und repariert. Es half mir deine Spur zu verfolgen, Nora. Ich musste es ein bisschen umbauen, um meine alten Kopfhörer anstecken zu können. Doch nun in dieser überfüllten Stadt empfinde ich die Sehnsucht nach einer bekannten Stimme, einem Ruhepol.

Internet-Archive sind unvergesslich, zeitlos, Fundstätten vergangener Tage. Im Archiv unseres alten Radio-Senders finde ich Stimmen, die seit Jahren nicht mehr mit mir gesprochen haben. Aber in vergangenen Zeiten waren wir Freunde und diese Freundschaft, obwohl zerbrochen und im Schutt der Zeit vergraben, hilft mir doch in diesem jetzigen Moment.

Die Stimme sagt: „Der beste Weg ist der zwischen Ignoranz – der Geborgenheit seiner eigenen Bubble – und Konfrontation mit dem Weltschmerz!“

„Grenzgänger sind wir immer und werden wir immer bleiben“, antwortet die Stimme auf meine lautlosen Rufe. Und meine Schritte werden selbstbewusster, die Richtung stimmt wieder, die Gebäude und Straßenzüge erinnern mich wieder an die Karten, die ich wochenlang hiervon gezeichnet habe, um mich zurecht zu finden.

Heute werde ich dich finden, davon bin ich überzeugt!

Die Grenze, die mich in die Schranken weist, ist noch nicht erfunden worden.

Nohtaram II

Mara und T(ar)on blieben schließlich stehen,
auch im Rückwärtsgang steckt das Wort gehen.

Irgendwann ging ihnen die Puste aus,
seltsam, ist's doch ein Graus,
dass alle and'ren weiterliefen,
im Angesicht ihres Schweißes triefen.
Kurzum vielleicht ist's jetzt gut,
dass mal wer and'rer einen Schnaufer tut.

The lost chapter: Kapitel 10: Gefangen

19.06.2020

Nach einem Tag in der Isolationszelle der Polizeidienststelle, darf ich nach Hause.

„Wirklich?“, wundere ich mich gegenüber Inspektor Dougut, der mich vor der Zelle in Empfang nimmt. Ich habe schlecht geschlafen, mir die ganze Nacht Gedanken gemacht, wie es nun weiter gehen sollte. Ich im Gefängnis mit meiner kleinen Nora? Würden sie mir das Kind wegnehmen, sobald es geboren wäre? Können meine Kinder und mein Partner mich überhaupt besuchen? Und jetzt diese Nachricht? So einfach: „Guten Morgen, Frau Eckert. Sie dürfen nach Hause gehen!“ Immer noch ungläubig starre ich den Inspektor an.

„Kommen Sie doch mal raus da!“, meint er trocken und winkt mich aus der Zelle.

„Wir haben Ihnen ein Zimmer in Ihrem Haus gerichtet“, fährt er fort. „Die Türe zu diesem Zimmer wurde mit einem Sicherheitsschloss versehen, welches sie per Code von innen aus bedienen können“, spricht er ruhig weiter, ohne darauf zu achten, dass mir vor lauter Verwunderung das Atmen immer schwerer fällt.

„Der Code für den Besuch der Toilette lautet: 2569. Merken Sie ihn sich! Der Code lässt die Türe für 10 Minuten unverriegelt und darf 3 Mal am Tag bedient werden.“

In mir regt sich Widerstand, ich schnappe nach Luft. „Drei Mal am Tag?“, rufe ich entsetzt. „Ich bin schwanger! Haben Sie schon einmal mit einer schwangeren Frau zusammen gelebt? Bei meiner letzten Schwangerschaft musste ich alleine nachts drei Mal aufs Klo!“

Die letzten Worte spucke ich dem Inspektor regelrecht entgegen. Sein Gesicht verzieht sich zu einem angewiderten Grinsen. Mein Mundgeruch und die Distanz zwischen uns ist nicht regelkonform. Jetzt wird mir die Sinnhaftigkeit eines Nasen-Mundschutzes erstmals bewusst. Schutz vor Geruchs- und Spuckbelästigung.

„Bei weiterem Fortschreiten Ihrer Schwangerschaft, können wir über die Erhöhung der Toilettenbesuchs-Zahl diskutieren, Frau Eckert“, meint er abschätzig. „Ich muss Sie außerdem noch darauf hinweisen, dass, falls nach jeweils 10 Minuten Ausgang die Türe nicht wieder von Ihnen durch Bestätigung eines per SMS durchgegebenen Codes der Polizeidirektionsstelle verschlossen wird, eine Streife bei Ihnen vorbei fahren wird. Also keine Kaffeekränzchen, kurze Besuche bei ihrer Familie, et cetera. Verstehen Sie mich?“

Inspektor Dougut sieht mir streng in die Augen. Wie sollte ich diese Auflagen nicht verstehen?, ärgere ich mich. Ich nicke widerwillig.

„Wann darf ich essen?“, frage ich schon fast untertänig.

„Ihnen stehen drei Mahlzeiten am Tag zu. Sie werden sich mit Ihren Mitbewohnern koordinieren müssen oder Sie ernähren sich von Mikrowellen-Essen. Wir haben Ihnen einen provisorische Küche eingerichtet. Mini-Kühlschrank, Mikrowelle, Wasserkocher. Geschirr waschen sollten ebenso ihre Mitbewohner übernehmen. Wir haben sie darüber aufgeklärt, mit Handschuhen, Ganzkörperschutzanzügen und Desinfektionsmittel ausgestattet.“

Inspektor Dougut seufzt. Diese Textmengen am Stück abzuliefern scheint ihn große Anstrengung zu kosten. Er ist es gewohnt, dass die anderen sprechen und er ihnen mit wenigen Sätzen alles aus der Nase zieht. Gezwungen blickt er zu mir: „Haben Sie noch eine Frage?“

Mein Kopf schwirrt, eine Frage schreit in mir: Dürfen Sie das? Ist es rechtlich möglich, mich unter diesen Auflagen zu Hause einzusperren? Doch ich zögere zu lange, Inspektor Douguts Geduld ist am Ende.

„Gut. Hier ist eine schriftliche Einverständniserklärung“, meint der Inspektor und reicht mir einen Stapel zusammen geheftete Zettel. „Ihre Unterschrift wird nicht benötigt. Weitere Fragen werden Sie sich durch die Lektüre klären.“

Mit diesen Worten nickt er mir knapp zu und entfernt sich. Zwei Polizeibeamte fordern mich auf ihnen in angemessenem Abstand zu folgen.

Kapitel 17: The day after yesterday

Ich höre das Freizeichen am Ohr, Nora im Arm, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Wir stehen in einer der wenigen verbliebenen Telefonzellen auf einem verlassen scheinenden Parkplatz.

Es läutet bei uns zuhause, Nora. Noch denke ich von dem Ort, von dem wir erst kürzlich aufgebrochen sind als Zuhause. Noch ist die Straße eine Übergangslösung. Als dein Vater abhebt, durchflutet mich Erleichterung.

„Hallo?“, antwortet er verwirrt.

„Hej“, sage ich leise.

„Schatz?! Wo bist du?“, erschrocken und zugleich verärgert zu klingen ist eine Spezialität deines Vaters.

„Kann ich dir nicht sagen…“, antworte ich knapp.

„Ist Nora bei dir?“, unterbricht er mich, bevor ich weiter reden kann.

„Natürlich! Es geht uns gut“, versichere ich.

„Was ist passiert? Wo wart ihr? Die Polizei war hier und hat mich verständigt.“

Er wartet auf eine Antwort von mir. Es ist schwer zu erklären.

„Bist du noch dran?“

„Ja…ich habe die Polizei gesehen…“, antworte ich zögerlich.

„Wie?! Wann? Wie kann das sein?“, dröhnt es aus dem Hörer. „Wer ist dran, Papa?“, höre ich die Kinder im Hintergrund fragen.

„Ich habe sie gesehen, wir waren ganz in der Nähe…“, doch alles kann ich ihm nicht erklären. Es war ein glücklicher Zufall. Ich wollte nichts mehr mit der Polizei zu tun haben. Die Isolationshaft – eine ganze Schwangerschaft und Geburt lang, war eindeutig genug staatliche Autorität für mich – mehr, wie ich ertragen konnte und gewillt war. Trotz aller Vernunft, die ich mir in den einsamen Stunden versucht hatte einzubläuen, trotz all der Gespräche mit dir Nora, in meinem Bauch, mein Frust und meine Wut hatte sich ins Unendliche gesteigert. Die unbewusste Flucht in den Bus war ein glücklicher Zufall, vielleicht das Einzige, was meine geistige Gesundheit vor dem letzten Zusammenbruch schützen konnte.

Unser Gespräch dauert so lange, bis du, kleine Nora, in meinen Armen langsam quengelig wirst.

„Schatz, es geht uns wirklich gut. Mach dir keine Sorgen! Wir müssen jetzt weiter“, kürze ich die ewigen Nachfragen nach unseren Plänen ab.

„Wohin wollt ihr? Was hast du vor, Liebling?“, fragt dein Vater besorgt. „Was wird aus mir und den Kindern?“

Mein Hals schnürt sich zu, meine Stimme droht zu kippen, als ich zögernd frage:

„Wenn ich dir sage, wo wir gelandet sind, wenn wir ein gutes Fleckchen gefunden haben – kommt ihr dann nach?“

Ich unterdrücke einen verzweifelten Schluchzer, zwänge jeden einzelnen Ton heraus und versuche ihn normal klingen zu lassen. Ich würde so gerne meine Kinder in den Arm nehmen, ich konnte sie nur durchs Fenster vom Bus beobachten, wie sie eben von der Schule nach Hause gekommen waren. Sie hatten ihre kleine Schwester kein einziges Mal im Arm gehalten. Die Wut über diese Ungerechtigkeit treibt mir die Tränen in die Augen. Lautlos fallen sie auf den schmutzigen Boden der Telefonzelle.

„Natürlich kommen wir nach!“, antwortet dein Vater.

Ich glaube ihm.

The day after that day – 9 years later

Alle Welt meidet mich. Noch mehr als ich sie bisher gemieden habe.

Meine Klamotten stinken meterweit nach, auch wenn ich schon lange vorbei gegangen bin. Ich habe einfach nicht die Kraft mich zu waschen, eine frische Haut überzustülpen, wenn ich das Gefühl habe innerlich zu verfaulen.

Nora, meine liebe Nora.

Ich streife durch die Stadt auf der Suche nach dir.

Die Menschen gehen ihrem gewohnten Alltag nach. Ich wusste gar nicht, dass es diesen Alltag überhaupt noch gibt in dieser absurden Welt. Mein Alltag war die Natur und du, Nora.

Hier: Top gestylt, hochmodern gechippt und mit jedem technischen Schnickschnack ausgestattet fahren die Leute durch die Gegend. Es gibt dreispurige Füßgängerzonen, für fahrende Fußgänger, analoge Fußgänger und schwebende Fußgänger. In der Mitte, mit den wenigen analogen Fußgängern trotte ich mit. Es ist schwer in dieser chaotischen Stadt voranzukommen. Alle paar Meter gehen Wege ab, die weiter in das Labyrinth der Stadt führen. Die meisten Menschen starren in ihre mobile devices, lassen sich wie Cyborgs durch die Stadt lotsen von Systemen, denen man so viel Wissen angeeignet hat, dass sie sich klüger als Menschen bezeichnen.

Wie wenig Ahnung habe ich überhaupt davon, wie es wirklich ist? Ich sehe nur, was ich verstehen kann und das ist wenig. Dieser Ort ist so nichtssagend für mich wie die Wüste Spaniens. Dort konnten wir zwar nicht leben und wir hatten es probiert, Nora. Doch die Wüste war zumindest lebendig. Diese Stadt scheint tot und verlassen, Beton auf Asphalt, geplättet und planiert zum Zweck eines höheren Ziels. Ich verabscheue diese Stadt und ihre Bewohner verabscheuen mich.

Mit angewiderten Blicken und zugekniffenen Nasen drücken und schieben sich die Menschen an meinem Schatten vorbei. Der Schlüssel in meinem Hosensack klimpert und kündet mein Kommen an. Er verrät mich bereits einige Meter im Voraus. Die Menschen fürchten mich, obwohl sich gar nicht wissen, was mir durch den Kopf geht.

Ich bin bloß deinen Spuren gefolgt, Nora. Sie führten mich vor das Tor der Hölle. Ich bin ganz nah und hoffe nur, du willst wieder mit mir kommen.

So sehr sehne ich mich nach einem Bad unter dem Wasserfall, nach deiner Gesellschaft und Zuversicht und bete zu allen Göttern, die ich mir ausmalen kann, dass du nicht zu einer von ihnen geworden bist. Es ist Monate her, seit wir getrennt wurden. Vielleicht hast du dich bekehren lassen, hast mich vergessen und gesehen, wie schön und gut diese Welt ist, wie viel besser als die unsere…

Wut und Verzweiflung sind die einzigen Emotionen die mich weitertreiben. Wenn ich die Macht hätte sie mit einer Krankheit anzustecken und in den Tod zu stürzen, mittlerweile würde ich es tun! Doch diese Macht war mir nie zu eigen…

Jede noch so abstruse, grausame Verschwörungstheorie macht irgendwann Sinn, entdecke ich halb taub von den Eindrücken um mich herum. Der Ausweg, den ich damals für uns gewählt hatte, treibt mich heute in die Ecke. Wie ein verängstigtes Tier kämpfe ich nun mit den einzigen Mitteln die mir geblieben sind – Überlebensdrang und entfesselte Wut.

Ich bin die Projektionsfläche dieser Menschen – die Projektion ihrer Furcht, ihre tiefsten Ängste einmal so tief zu fallen. Doch, „ich sage es euch“, wahrscheinlich murmle ich sogar vor mich hin, „ich sage euch, der Fall ist kurz und schnell. Der Aufprall braucht viel länger zum Gehirn. Auch wenn ihr körperlich zertrümmert seid, werdet ihr es erst Jahre später erfahren!“

„Ich bin die Kartographin eurer Ängste! Ein Wesen, das nicht existieren sollte und es trotz aller Widerstände doch tut…“

Die Macht zu vernichten, wenn auch nur potenziell möglich, war bei mir immer fehl am Platz. Die Gewissheit potentiell gefährlich zu sein, Gift für meine Seele, Nährboden für meine Schuldgefühle. Ich hatte mich zurückgezogen – mir meiner Gefährlichkeit bewusst – mich in die einzige Sicherheit geborgen, die ich mir selbst geben konnte, die ich mir jeden Tag selbst erarbeiten musste. Eine Sicherheit, die mir niemand versprechen konnte. Sicherheit ist die Abwesenheit von Angst. Und mit dir alleine Nora, in unserem Bus, in den ausgesetztesten Regionen Europas fürchtete ich mich zwar vor wilden Tieren, aber nie vor der Unberechenbarkeit eines Staates. Diese Stadt hier ist der Inbegriff von Furcht und Rücksichtslosigkeit. Sie repräsentiert die Leichtigkeit des Seins und zugleich die Schwere des Pfandlohns – mein Leben in Bildsprache gezeichnet – als gläsernes Buch – gegen den angenehmen Komfort nie wieder denken zu müssen.

Was gäbe ich dafür, diesen Schritt gemacht zu haben?

Von einem der glatten, fenstergesäumten Gebäuden, dringt Musik an mein Ohr – Stimmen aus der Vergangenheit:

„Well, times are bad

and all the time you‘re feeling sad.

People are laughing

and telling you to go away.

Well it‘s hard to walk around,

feeling like a circus clown.

The people, that you love,

are attacking you from above.

Well I know, I know,

that it‘s hard, hard, hard…“

Adam Green „Times are bad“

Eine Saite in mir beginnt zu schwingen, Empfindungen aus längst vergessenen Tagen schwappen hoch. Ich fühle mich jung und verletzlich.

Kapitel 16: Norden, immer Norden

Seit wir entkommen sind, sprechen wir nicht über das, was in der Waldhütte geschehen ist. Es ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass wir wieder zusammen sind. Wir zwei alleine gegen den Rest der Welt, so fühlt es sich an. Gemeinsam sind wir stark.

Ich sollte anfangen, dich besser vor zu bereiten!

Pfefferspray hält nicht ewig und birgt mehr Gefahren als er Hilfe leisten kann. Du bist nicht wehrlos, aber die Gefahr, die von anderen Menschen ausgeht, scheinst du noch nicht richtig einschätzen zu können, Nora, meine Liebe.

Du bist neun Jahre alt, ein wacher Geist mit hellen Gedanken. Vielleicht ist das der Grund für deine Naivität. Trotz der Umstände unter denen wir leben, immer auf der Fahrt, nie länger als ein paar Tage an einem Ort, bedacht keine Freundschaften zu schließen, keine Kontakte mit anderen Menschen – was sind Freunde auch anderes als Steine am Wegesrand? Im besten Fall Felsen in der Brandung, im schlimmsten, Mauern, die dich zu Umwegen zwingen.

Meine Gedanken leuchten nur hell in den sorglosen Stunden mit dir, wenn ich dich beobachten kann auf deinen Entdeckungsreisen, wenn wir miteinander reden, wenn wir klettern, zeichnen und spielen. Wenn die Nacht einbricht, werden meine Gedanken düster, nebelig und trübe. Deswegen findet mich der Schlaf auch so selten und meist überraschend.

Trotzdem scheue ich mich davor, dir diese, deine frohe Welt zu entreißen. Die Welt, die du zu lieben gelernt hast – die Natur, die Tiere, das Strahlen der Sonne, das Funkeln der Sterne, hat nichts und doch alles zu tun mit der Welt, die ich zu hassen gelernt habe. Der Verrat an Mutter Erde tönt laut in meinen Ohren, beim Anblick der Siedlungen, verbunden durch schwarze Mahnmale aus Asphalt, hell beleuchtet und summend in ihrer elektrischen Betriebsamkeit, einzig und allein den Zweck eines Daches über dem Kopf erfüllend und doch so viel mehr als nur das. Der Weg in die Natur hinaus ist ein Akt der Überwindung. Diese Räume bieten Ablenkungen und Ausflüchte in bunten Farben und unzähligen Klängen. Diese Räume, die ursprünglich Schutz vor Wind, Wetter, Kälte und wilden Tieren boten sind nun zu unseren Gefängnissen geworden, haben uns kleingeistig gemacht, Entdeckerfreuden erstickt, Bequemlichkeit gezüchtet.

Wir fahren weiter, auf unbefestigten Wegen immer Richtung Norden.Wohin, das zeigen unsere Karten. Karten, nach denen ich mich nun schon seit Jahren richte. Im Norden werden die Karten leerer, wenig erforscht bisher, aber es ist Sommer. Wir haben Zeit zu erkunden, bevor der Winter kommt und uns wieder Richtung Süden treibt. Wir suchen die kleine Fleckchen unberührter Natur, bewohnbarer, aber nicht belebter Waldstücke. Unsere Suchen dauern immer länger, die Orte, die ich (menschen)frei bezeichne, werden rarer. Die Leute, die hier und dort wohnen, ruppiger und argwöhnischer.

Mittlerweile haben wir viel Distanz zwischen uns und die Waldhütte gebracht, unsere unsichtbaren Verfolger längst abgehängt, meine Panik zurück gelassen.

Und trotzdem finden sie uns wieder. Bald, zu bald.

Diesmal dauert es Wochen, bis ich dich wieder finde, Nora. Mein persönlicher Albtraum.

Doch jetzt weiß ich, was in der Hütte passiert ist und es lässt mich zittern und toben. Jetzt weiß ich, warum sie sich nicht die Mühe gemacht haben, dich richtig ein zu sperren. Sie hatten keine Angst, dass du abhauen könntest. Sie hatten sogar darauf gewartet.

In der ersten Nacht nach der Waldhütte habe ich deinen ganzen Körper abgesucht. Nach Abdrücken von groben Fingern, nach Kratzern, nach Blut, nach Schäden. Aber die kleine Stelle an deinem Oberschenkel, die habe ich nicht beachtet. Du konntest mir nicht sagen, wo es schmerzt, du hast ja geschlafen. Ich wollte dich nicht wecken, nicht beunruhigen. Wehleidig warst du nie. Und ein Kind, dass den ganzen Tag durchs Gestrüpp hüpft, hat überall Kratzer und Schrammen – Mutter Natur ist nicht gnädig, sie ist wild und verspielt, wenn auch nicht absichtlich wütend.

Sie hatten dich gechippt! Ein kleiner Chip, wie in diesen Uhren damals, die alle Kinder haben wollten. Ein Ortungschip, ein kleiner blinkender Punkt auf dem Display irgendeines Fremden.

Auf unseren Umwegen, in den tiefen Tälern, den Funklöchern und dort wo das Satelliten-Rauschen zu groß ist, um Genaues zu erkennen, konnten sie uns nicht finden. Doch am Ausgang eines dieser Täler lauerten sie uns auf. Und sie kamen wieder in der Nacht. Wieder als ich nicht da war. Und dieses Mal war kein Zettel von dir da, keine Nachricht, die mir sagte, „Mach dir keine Sorgen, Mama! Wir finden uns wieder.“

Es dauerte Wochen, bis ich eine Spur von dir hatte. Wochen, in denen ich mich nächtelang in den Schlaf weinte. Wochen, in denen ich mir den Kopf zerbrach, wie ich den Chip entfernen soll. Wochen, in denen ich nicht wusste, wo ich hin sollte. Wochen, in denen ich mir einen hilfreichen Freund wünschte, so sehr, dass mir das Atmen schwer fiel, so sehr, dass ich das Stechen der Einsamkeit in jeder Faser meines Körpers spürte.

Sie haben mir alles genommen, uns! haben sie alles genommen – eine gesunde Erde, ein gerechtes Leben, meine geliebte Familie. Ich weine nicht nur um dich, Nora-Liebes, sondern auch um meine ersten drei Kinder, meinen Partner und meine Schwestern. Was ich einst Familie nannte, ist mir entrissen worden. Gespalten, zerbrochen, glitschig und schleimig sich wendend in alle Richtungen verstreut.

Mein Herz schreit nach Rache, meine Seele nach Erlösung.

Und wieder erwache ich in diesem weißen Raum. Weiße Vorhänge, weißes Bettzeug, weiße Decke, weiße Wände. Sobald ich das Zimmer verlasse, schließt sich die Türe von selbst und zischend steriler Nebel füllt den Raum. Ich, der Parasit in dieser Umgebung.

Kapitel 15: Schlaf

Mir dämmern im Traum Momente, die mir wach nicht wahr erscheinen wollen:

Erster Schultag. Nora ist freudig gespannt. Ich empfinde eine gepflegte Unruhe, eine wachsame Skepsis, die mit jeder Sekunde der Ungewissheit, der unzumutbaren Zumutungen, die mir stetig vor die Füße geworfen werden, in Panik umzuschlagen droht. Sie wird meine Beklommenheit spüren können, so der stille Vorwurf an mich selbst, gefolgt von einer flehentlichen Entschuldigung in Blicken, sie trotz aller Widersprüche in diese Welt gesetzt zu haben, sie täglich dieser Welt auszusetzen, die so willkürlich, wie übermächtig über den kleinen Alltag meines Kindes und vieler anderer entscheidet. Nicht jedes Elternteil kämpft diesen Kampf gleichermaßen leidenschaftlich, Resignation macht sich breit, Schulterzucken, betretene Blicke, Ausweglosigkeit. Mein Credo: „Wenn sie (undefinierbar in ihrer schier ungreifbaren Größe und Masse) es uns schwer machen, so machen wir (kleiner Kern – Nora und ich) es ihnen auch schwer!“

Ich wache auf. Kein Zimmer mehr in Sicht, keine weißen Wände, die das weiße Licht verschlucken, stattdessen blicke ich in den Sternenhimmel, umgeben von Bäumen, in der Ferne das Rauschen eines mächtigen Baches. Der Geruch von feuchter Erde und Sommer steigt mir in die Nase. Meine kleine Nora liegt neben mir im Schlafsack. Ich muss kurz eingenickt sein.

Wir liegen am Dach unseres Busses und entziffern die Rätsel des Himmels – Sternbilder, deren Geschichten wir weiter dichten oder einfach neu erfinden. Fragen über Fragen strömen aus dem Mund dieses Kindes. Ungelenk(t), ungefiltert, frei von der Angst etwas Falsches zu sagen, unbeschränkt. Wer kleine Menschen groß denken lässt, denke ich mir, hat verstanden was Natürlichkeit bedeutet.

Wir spielen den ganzen nächsten Tag im Wald, ernähren uns von den Früchten der Erde, von Wald-Himbeeren und wilden Heidelbeeren, die wir so hoch oben pflücken, wie du hinlangen kannst. Hin und wieder fahren wir ein Stück weiter mit unserem Bus. Dann entdecken wir Steinfelder, die in früheren Jahrhunderten als Riesen-Spielplätze gedient haben müssen. Gut versteckte Steinbeißer werfen uns Steine in den Weg über die wir leichtfüßig hinweg hüpfen. Wir beobachten die Tiere der Wiesen – zuerst die kleinen, Ameisen, die geschäftig herum wuseln und Straßen durch die Landschaft bauen, Heuschrecken, Hummeln und Schmetterlingsraupen. Wir freunden uns mit ihnen an – sie sind so ruhig und offen, springen nicht davon, sondern lassen sich betrachten von allen Seiten, fühlen sich geschmeichelt durch die liebevolle Aufmerksamkeit meiner Tochter, die sie wie kleine Schätze behandelt, vorsichtig begreift und gleichzeitig darüber staunt, wie über ein kleines Wunder unter vielen tausenden, die diese Welt ausmachen.

Am Abend bist du müde, erschöpft von der frischen Luft und den vielen Eindrücken.

Nachdem du am Dach unseres Busses eingeschlafen bist, meine Sternen-Geschichten dich mitgetragen haben, trage ich dich in unser mobiles Wohnzimmer. Du schläfst gut, das tust du immer. Ich muss meine Streifzüge durch die Nacht ohne dich machen. Noch ist es zu gefährlich und anstrengend für dich, aber irgendwann darfst du mich begleiten. Wenn du älter bist. Wenn es nicht mehr ausweichbar sein wird. Wenn wir unsere vereinte Kräfte brauchen.

Ich wickle mir den Schlauch um die Brust, nehme die zwei leeren zehn Liter-Kanister und einen großen Rucksack mit und breche auf. Auf den Pfaden, an denen wir heute noch ausgelassen spielten, wandere ich zielstrebig in Richtung der kleinen Siedlung. In dieser Siedlung gibt es nicht viel Strom, also auch keine Elektroautos. Die Chance hier fündig zu werden ist groß. Diesel ist teuer geworden, aber wir dürfen nie stehen bleiben. Egal ob wir uns wohl fühlen dort. Die Welt ist zu klein geworden für unsere Freiheit, zu skeptisch, zu kontrolliert.

In ein paar Stunden bin ich zurück.

Nach einer halben Stunde flotter Marschzeit kommen die ersten Häuser in Sicht. Zu jedem Haus gehören zwei Autos. Der Lack blättert von den Autos, Rost frisst sich überall durch. Nur wenige können froh sein, wenn der Boden unter den Pedalen gut genug hält, um nicht dem Asphalt im Fahren beim Vorbeirauschen zu zu sehen. Manche Tankdeckel sind verschlossen, aber bei den meisten habe ich Glück. Die Menschen in dieser Siedlung sind nicht reich. Unser Vorteil, aber mein Gewissen schmerzt mich.

Ich stecke den Schlauch durch die Tanköffnung und sauge fest an. Bald sind meine Kanister voll. Ich ziehe sie durch eine starke Lederschlaufe und hänge sie mir über die Brust. Auf meinem Weg bin ich halb durch die Siedlung gekommen. Am Rückweg mache ich Halt bei dem großen Container, der das Ende der Siedlung und den Beginn der Wildnis markiert. Ich stelle die zwei schweren Kanister ab und rüste mich mit Pfefferspray und Taschenlampe. So nah am Wald sind Container nur unter Tags halbwegs sicher. Sobald das Tageslicht schwindet, schwindet auch die Zuversicht der Menschen in ihre Sicherheit. Die Tiere des Waldes wissen das. Bären gibt es hier nur ein paar wenige. Aber Wölfe werden immer mehr. Zum Glück sind Wölfe keine großen Fans von Dosenfutter. Obwohl die Bauern schon seit Jahren große Vorkehrungen getroffen haben, um ihre Schafherden in der Gegend sicher zu machen, hatten sie keinen großen Erfolg damit. Problemlösungen erfolgen meistens nur zielführend, wenn man das Problem an sich einmal verstanden hat. Und das Problem waren nie die Wölfe. Es waren immer die Menschen.

Die Container geben nicht viel her, das hatte ich befürchtet. Arme Leute verwerfen ihr Essen nicht.

Aber ein paar – vermutlich Spenden von Essensausgaben – sind doch im Container gelandet. Sogenanntes Power-Food – Chia-Samen, Goji-Beeren und Kerne unterschiedlicher exotischer Früchte. Mit den Lebensmittelkarten bekommen die Menschen hier Pakete zusammen gestellt. Was der Bauer nicht kennt, isst er aber nicht. Wenn er nur wüsste, dass eine Überdosis Goji-Beeren ihm ein paar schöne Stunden im Delirium bescheren würden, wäre das anders. Ich bin da weniger wählerisch und auch vorsichtiger. Schokolade hatten wir schon lange nicht mehr, meine Hoffnung welche zu finden ist aber auch sehr gering.

Ein tiefes Brummen reißt mich aus meinen Gedanken. Verdammt. Hinter dem Container aus dem Wald nähert sich ein Bär. Nicht allzu groß und stark abgemagert, aber doch groß genug, um mir Angst einzujagen. Ich ziehe mich zurück, stecke die Taschenlampe weg. Ein halb vergammeltes Stück Speck, in das ich eben gestiegen bin, werfe ich in seine Richtung. Den Pfefferspray lasse ich nicht sinken. Ohne mich von ihm wegzudrehen, stülpe ich mir die Kanister um, den Rucksack habe ich ohnehin schon um den Bauch geschnallt, und entferne mich langsam rückwärts gehend.

Er verfolgt mich mit Blicken, versucht aber nicht mir nach zu kommen.

Der Weg zurück dauert länger, die Kanister wiegen schwer. Die Geräusche im Wald haben zugenommen. Ich versuche jedes Knacken meiner Schritte zu vermeiden, doch mit der zusätzlichen Last ist es schwierig. Als ich an unsere Lichtung komme, sehe ich das verwirrte Licht einer Taschenlampe im Inneren des Busses leuchten. Ich werde schneller, verstecke die Kanister hinter einem dicken Baumstamm und laufe geduckt auf den Bus zu. Stimmen höre ich keine, aber irgendwer räumt im Bus herum. Bist es nur du, Nora? Sie kann es nicht sein. Nora weiß immer, dass ich wieder zurück komme. Einen Kampf kann ich nicht riskieren, nicht wenn ich nichts weiß über die Person im Bus oder wo meine kleine Nora ist.

Schreie schrecken mich auf.

„Nora?“ Ich blicke mich panisch nach ihr um. Nein, ich bin allein. Ich liege hinter dem Baumstamm. Es waren meine Schreie. Ich muss eingeschlafen sein.

Wo bist du, Nora? Sie haben dich mitgenommen. Wie haben sie uns bloß gefunden? Bist du aufgewacht und hast geschrien? Haben dich die Leute aus der Siedlung geholt? Und wo haben sie dich hingebracht?

Ich schleiche zum Bus. Die verwirrte Taschenlampe ist wahrscheinlich schon lange weg. Am Horizont sieht man die ersten rötlichen Verfärbungen. Ich habe zu lange geschlafen. Ich habe verpasst den Eindringling zu verfolgen.

Im Bus liegt die Karte von diesem Wald. Die Siedlung ist eingezeichnet, ich ergänze sie hektisch um die Häuser, die fehlen.

Wer auch immer hier war, es muss ihn große Überwindung gekostet haben in der Nacht in den Wald zu gehen. Die Bettdecke ist zerwühlt. Panik kriecht an mir hoch. Was ist passiert? Ich finde einen Zettel unter dem Tisch. Darauf ist ein Herz, durchgestrichen mit einem Pfeil. Das ist eines unserer Zeichen. Es geht ihr also gut. Ich muss sie nur finden.

Vielleicht ist in der Nähe eine kleine Jagdhütte, die ich beim Auskundschaften übersehen habe. Ich durchsuche die Karte nach weiteren Lichtungen in der Nähe. In der Siedlung war es ruhig, alle Lichter waren dunkel und ich hörte deine Schreie nicht – dabei ist er unverkennbar und dass du schreien musst, das haben wir schon so oft geübt.

Es muss hier in der Nähe eine kleine Hütte geben.

Ich lasse den Motor an, er blubbert und krächzt und stirbt wieder ab. Hinterlistige Schweine, fluche ich. Ja, ich habe das gleiche mit ihren Autos gemacht, aber das – ein Kind stehlen und den Diesel! Die Welt ist absolut verrückt geworden.

Ich steige aus, fülle meine Kanister in den Tank und mache mich zu Fuß auf den Weg. Mit der aufgehenden Sonne entdecke ich ihre Fußspuren und verfolge sie bis zu einer kleinen Hütte zwischen den Bäumen. Gotcha!

Meine kleine Nora lässt sich sicher nicht lange einsperren, denke ich, als ich um die Hütte schleiche. Tatsächlich! Aus dem halb geöffneten Fenster blicken mich zwei verängstigte und sehr bekannte Augen an und blitzen vor Freude, als sie mich erkennen. Nora winkt mich her und deutet mir den Rucksack aufzumachen. Sie lädt alles Essbare, das sie in den letzten paar Stunden zusammen gesucht hat hinein. Dann lasse ich sie auf meinen Rücken klettern und wir machen uns schnell aus dem Staub.

Ich taste ihren Rücken ab, ihre Beine. Ihre Kleider sind ganz, sie weint nur ganz leicht. Vor Freude hoffe ich. Ich küsse ihre schmalen Hände, die sich um meinen Hals schmiegen und fühle nichts als Erleichterung. Der Bus bringt uns soweit weg von diesem Ort, wie der gestohlene Tank zulässt.

Kapitel 14: 19.03.2021, später

Ich gehe die Stiegen in die Wohnung hinauf. Es ist niemand da, kein Wunder. Die Kinder sind in der Schule und mein Partner wird in der Arbeit sein. „Rucksack packen?“, schießt es mir. Es ist März, auf den Bergen liegt noch Schnee…Das wird nichts, dieses Mal muss ich es anders angehen.

Der Ersatzschlüssel hängt dort, wo er immer hängt. Ich nehme mir Geld aus den Sparkassen der Kinder und laufe mit Nora zum Auto.

Wochenlang hatten mir die Kinder erzählt, ihr Vater wäre den ganzen Abend in der Garage gewesen. Hätte umgebaut, wäre jedes Wochenende zum Bauhaus gefahren, das einkaufen, jenes besorgen. Aber sie fuhren nie gemeinsam weg. Vielleicht wollten sie mich nicht zu lange alleine lassen.

Jetzt endlich sehe ich das Ergebnis nicht nur an meinem Fenster vorbei fahren, sondern ganz in echt. Ich öffne die Kofferraumtüren. Eine Seite des Busses ist umgebaut zur Küche, an der anderen Seite ist eine mehrfach gefaltete Matratze festgeschnallt. Ein paar Spielsachen und Kuscheltiere der Kinder hängen in Körben von der Decke. In den Schubladen der „Wohnzimmerwand“ liegt Wechselgewand. Ich laufe noch einmal hoch, hole Jacken, Skianzüge und für jeden noch eine Hose und einen Pullover, werfe sie in einen Korb und bringe sie zum Bus. Am Weg nach unten stolpere ich über einen neuen Kindersitz für Nora. Noch nie gebraucht, in Folie eingepackt um nicht Staub anzusetzen. Auch den nehme ich mit und montiere ihn am Beifahrersitz.

„Nora, es geht los!“, denke ich aufgeregt. Meine kleine Nora, du schaust mich mit großen Augen an. In einem Auto warst du noch nie, die schnellste Bewegung waren wir zwei beim Rauf- und Runterlaufen über die Stiegen, wenn wir noch genug Zeit hatten, bevor meine Gefängnistür uns rief.

Langsam fahre ich los. Auch ich bin lange nicht mehr im Auto gesessen, vor allem nicht in unserem neuen Bus! Durchs Dorf kommt mir zum Glück niemand entgegen, ich muss keinem winken. Weiter unten auf der Straße tauchen wir in der Masse unbekannter Fahrzeuge unter, wo keiner mehr nach einem bekannten Gesicht Ausschau hält.

Auch im Supermarkt mit Maske bin ich inkognito. Nora erntet hie und da ein freundliches Augenzucken, wahrscheinlich auch ein Lächeln – geschützt vor der Außenwelt durch die Maske – aber sonst erregen wir keine Aufmerksamkeit, was mich einige Mühe kostet. Die Regale des Supermarkts sind gut gefüllt, keine Spur mehr von der Massenpanik, von denen der Radio berichtet hatte. Doch die Leute pflegen einen schnellen Schritt und wenig Augenkontakt.

Knäckebrot, Müsli und Haltbarmilch, Dosengemüse, Reis und Linsen in großen Mengen wandern in meinen Einkaufswagen, zum Schluss Äpfel, Zwiebeln und Schokolade. Ich befürchte zu sehr aufzufallen mit meinen Einkäufen und nehme zur Tarnung noch eine Packung Chips, eine Packung Klopapier und ein 6er-Tragerl Bier mit, versuche die Scheinheiligkeit meines Großeinkaufs durch willkürliche Spontanität zu tarnen. Am Weg zur Kassa entdecke ich noch zwei große Kochtöpfe, die damit werben als Campinggeschirr zu taugen. Auch die nehme ich mit.

Dann zurück ins Auto. Alles einmal nur rein und zurück nach Hause. Dann muss ich nur noch warten, bis alle zurück sind. Ob sie wissen, dass heute mein letzter Tag in Gefangenschaft war? Ob meine Familie darüber informiert wurde?

Als wir zu Hause ankommen, ist Nora eingeschlafen. Ihr Köpfchen friedlich zur Seite geklappt. Ich will nicht zurück in meine Zelle, dort steht ihr Bett. Hat man dir inzwischen ein Bett gebaut in unserer alten Wohnung, Nora? Ich weiß es nicht.

Ich parke mich wieder dorthin, wo der Bus vorher stand, steige durch den Mittelgang ins Bus-Wohnzimmer. Dort mache ich die Matratze los, finde auch noch Polster und eine Decke, die nach meinen Kindern riechen. Ich richte uns einen Schlafplatz.

Auch ich fühle mich plötzlich so müde, überanstrengt von den vielen Eindrücken im Supermarkt, dem kurzen Gespräch mit der Kassiererin, den Blicken, die mir folgten, wenn auch nicht bösartig, so doch interessiert, auf jeden Fall zu aufdringlich für mein von Stille verwöhntes Selbstgefühl. Ich hole Nora aus dem Kindersitz, lege sie vorsichtig auf die Matratze und kuschle mich dazu.

Ich höre die Glocken nicht, die Mittag läuten, ich höre die Stimmen nicht, die uns draußen suchen, ich spüre den Blick meines Partners nicht, der am Beifahrersitz hängen bleibt, langsam erkennend, dass Nora und ich nicht weit sein können. Ich höre nur das gleichmäßige Atmen meiner Nora, verliere mich in Träumen, die wie Irrlichter an meinem Unterbewusstsein rütteln.

Im Zwielicht

Ich tauche aus dem Dunkel meines Traumes auf, liege umgeben von weiß in meinem Bett. Weiße Decke, weiße Vorhänge, weißes Licht, das von außen herein strömt. Es muss schon mitten am Nachmittag sein. Ich stehe auf, bemerke, dass meine Füße mich nicht mehr so gut tragen, wie eben noch. Bemerke, dass meine Haut nicht mehr so glatt ist, wie sonst, mein Gesicht sich faltig anfühlt. Ich bin gealtert in nur einer Nacht!

Mein Zimmer beherbergt keinen Spiegel, nur eine Tür, die in einen ebenso weißen Gang führt. Eine Treppe, deren Wände keine Bilder zieren, keine Fotos von meiner Familie, nur frisch gestrichenes Weiß. Am Ende der Treppe erstreckt sich ein großer Raum.

„Guten Morgen, Mama!“, begrüßt mich eine Stimme, deren Klang mir völlig unbekannt ist. Eine Frau, um die dreißig Jahre alt, steht in der Küche und bereitet Essen vor. Sie lächelt mich an, als würde sie das jeden Tag tun. Doch dann bemerkt sie meinen fragenden Gesichtsausdruck und ihr freundlicher Blick ändert sich schlagartig. Sorgenfalten zucken über ihr junges Gesicht. Sie graben sich tief in ihre Stirn, kennen ihren Platz dort gut.

Die Frau schüttelt leicht den Kopf: „Ist heute wieder so ein Tag?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. Denn ich weiß ohnehin nicht, welcher Tag heute ist, geschweige denn welches Jahr.

„Setz dich doch, Mama“, fordert sie mich auf.

„Ich bin‘s, deine kleine Nora“, stellt sie sich ungefragt vor und streichelt mir über den Rücken.

„Das kann nicht sein!“, erwidere ich mit wachsendem Entsetzen.

„Gerade eben warst du noch so klein“, deute ich, „und hast neben mir gelegen. Im Bus, das weißt du sicher nicht mehr, du warst noch so klein!“, rufe ich ungläubig.

„Wo sind wir hier?“

Meine große Nora setzt sich langsam auf den Stuhl neben mich. Sie nimmt meine Hände in ihre und spricht ganz langsam.

„Mama, ich kann es dir nicht jeden Tag erklären. Unser Bus steht schon längst am Schrottplatz. Wir sind angekommen, Mama. Es geht uns gut.“

Sie klingt erschöpft. Wo sind wir angekommen, will ich fragen, aber Nora hält den Zeigefinger vor ihren Mund und heißt mir still zu sein.

„Ich werde mich jetzt melden, Mama. Sie brauchen jede Frau, die noch fruchtbar ist.“

Nora wird still, sucht Wörter in ihrem Kopf, die sie sich wahrscheinlich schon oft zurecht gerückt, doch noch nie ausgesprochen hat.

„Du hast es von Anfang an geahnt, als Kind hatte ich dir geglaubt, aber irgendwann begann ich zu zweifeln. Doch jetzt bestätigt sich, dass du Recht hattest – mit allem!“

Sie schüttelt den Kopf, versucht ihre Verzweiflung zu verbergen. Ich verstehe erst langsam, worum es ihr geht.

„Du willst das nicht tun, warum denkst du, du musst?“, frage ich.

Erstaunt sieht sie mich an. Erstaunt darüber, dass meine Frage zu ihrem Gerede passt. Erstaunt, wie klar mein Blick den ihren sucht.

„Weil sie jeden Tag im Radio berichten…“, stottert sie.

„Darüber, wie schlecht es steht?“, frage ich weiter.

Sie nickt und das Erstaunen nimmt überhand. Nora umarmt mich ungeschickt.

„Mama, wo warst du so lange?“, schluchzt sie unter Tränen.

Ich verstehe nicht, was sie meint. Ich war immer da. Immer bei ihr. Ich konnte nirgendwo anders hin.

„Ich war nicht, ich bin, mein Kind. Lass uns reden. Erzähl mir, was dich bedrückt!“, rede ich auf sie ein. Ich will einfach nur ihre Stimme hören. Eine Stimme, deren Echo ich in mir trage, das Echo eines brabbelnden Babys. Doch erste Worte, erste Sätze, erste Streitgespräche, suche ich umsonst in meinem Gedächtnis. Dort ist nichts geblieben, als wäre ich im Tiefschlaf versunken gewesen und dreißig Jahre später aufgewacht in einer mir fremden Welt.

Nora nickt schniefend. Sie holt mir einen Teller mit Essen und dann erzählt sie ohne einen Punkt zu machen.

Kapitel 13: Endlich frei

19.03.2021

Ich habe ihn herbei gesehnt, den Tag meiner – nein, unserer Freiheit, Nora! Der Tag, an dem du deine Geschwister nicht mehr durch eine Fensterscheibe betrachten musst! Der Tag, an dem ich endlich mehr wie meine zwanzig Schritte im Kreis und drei Mal am Tag zwölf Stufen hinauf und wieder hinunter gehen darf.

Als sich um 09:01 ohne mein Zutun die Türe öffnet und wenige Minuten später mein Telefon läutet, bin ich den Tränen nahe.

„Frau Eckert? Inspektor Dougut am Apparat! Glückwunsch, Sie sind hiermit offiziell der Quarantäne entlassen. Bitte werden Sie persönlich vorstellig in meinem Büro zur Gesundheitskontrolle! Ein Team von Ärzten erwartet Sie und Ihre Tochter bereits.“

Es klingt wie eine Tonband-Ansage und tatsächlich lässt mir der Inspektor nicht einmal Zeit ihm zu antworten, mich für die Entlassung zu bedanken oder ihm sonst was an den Kopf zu werfen.

Das war‘s also mit meinen Plänen für diesen ersten Tag in Freiheit.

Kein ausgedehnter Spaziergang im noch frischen Jahr, mit Schneefeldern auf den Waldwegen und zartem Frost in den Bäumen.

Ja, Nora, du bist geboren worden und hast in den letzten Monaten nur eingeschränkt gelebt, dich an Menschen mit Masken und Scheiben auf der Nase gewöhnt und gelernt die Mimik der Menschen nur an ihren Augen abzulesen. Augen sind schön, nichts von dem – aber ein ganzes Gesicht kann uns mehr sagen als nur die Augen. Du kennst nur mein Gesicht, du hast es gespürt, ertastet, gezwickt und trocken gestreichelt.

Wir werden gehen, Nora, dorthin, wo uns keiner vorschreibt, wie ein Gesicht auszusehen hat. Dorthin, wo wir Menschen in ihrer Gesamtheit erkennen können dürfen. Dorthin, wo Freiheit nicht bedeutet, sich ausreichend oft getestet oder geimpft zu haben.

Deine Geschwister nehme ich mit. Ich hoffe sie wollen immer noch, oder haben sie sich schon an ein Leben ohne mich gewöhnt?

Ich weine bittere Tränen des Verlusts.

An wie viel habe ich mich schon gewöhnt in dieser Zeit? Mit welcher Selbstverständlichkeit Untersuchungen und Tests über mich ergehen lassen, Menschen kennengelernt, die nur aus Augen und weißen, plasiküberzogenen Gewändern bestehen? Eine Tochter im auferlegten 1-Zimmer-Gefängnis zur Welt gebracht, ohne den liebenden Beistand meines Partners, ohne die Fröhlichkeit meiner Kinder, die jedes Mal neu über das Wunder des Lebens staunen können, ohne Zwischenmenschlichkeit und Einfühlsamkeit, außer durch die Hebamme. Doch ihr Leid war mindestens so groß wie meines…

Ich bin ein steril gehaltenes Versuchsobjekt…ich hoffe nur, dass sie nicht auf die Idee kommen nun auch dir Blut abzunehmen, Nora! Dich testen zu wollen, um herauszufinden, ob du immun zur Welt gekommen bist. Meinst du, das würden sie tun?

Würden sie dann darauf verzichten dich zu impfen? Oh, Nora! Die Welt treibt verrückte Blüten – für den Schutz der Kinder sind die Erwachsenen zuständig. Doch wer schützt diese vor ihren verrückten Gedanken? Wer schützt diese davor in die Falle einer falsch erzählten Verkettung von Umständen zu glauben? Wer schützt sie davor die falschen Lösungen für ein evidentes Problem zu suchen?

Meine große Tochter hat mich letztens gefragt: „Warum sind alle Verwandten meiner Schulkollegen geimpft? Die dürfen jetzt überall hingehen – warum darfst du nicht raus, du hast es ja schon gehabt!“

Ich weiß es nicht! Wieder und wieder kann ich nur bestärken, dass ich im Unklaren gelassen werde mit einer Einverständniserklärung, die ich nicht einmal unterschreiben musste. Als ob mein Einverständnis in dieser kritischen Situation nicht wichtig gewesen wäre…

Inspektor Dougut, vielen Dank für ihre Einladung, aber nein danke! Ich werde nicht zu ihnen kommen! Wir werden gleich fort gehen!

Wieder einmal heißt es Koffer packen, Rucksack packen, Proviant einpacken. Es ist 9:30 als ich zu diesem Entschluss komme. Ich stehe immer noch in der geöffneten Türe. Unfähig mich vor oder zurück zu bewegen. Meine kleine Nora fest im Arm, still gestanden, aber meine Gedanken haben sich überschlagen.

Wo kann ich hin? Nach 9 Monaten Freiheitsentzug…ich habe keinen grünen Pass bekommen – die Radiosprecher*innen haben davon geschwärmt, jedem Geschmack auf einen Freiheits-Pass gemacht. Darf ich mich ohne also offiziell nicht frei bewegen? Sollte ich doch zu Inspektor Dougut gehen? Was, wenn sie mich von dort nicht mehr gehen lassen?

Ich habe so viele Fragen und wage es keine einzige davon zu stellen. Nicht unbedingt aus Angst vor der Antwort, die mehr eine ausführliche Abweichung vom eigentlichen Thema sein wird, sondern aus Angst davor, was er zwischen den Zeilen erkennen könnte. Ich bin zu naiv, um in dieser Welt zu bestehen. Zu redselig, zu leicht durchschaubar, zu angreifbar. Einen Punkt wrd er finden, um mich zu zwingen, mich seinem Willen zu beugen. Der Inspektor hat mich bereits meiner Familie entrissen, das verbleibende Ass bist du, Nora.

Wohin mit uns?

Kapitel 12: Eintönigkeit

13.09.2020

Die Einverständniserklärung klärt mich tatsächlich über den, von der Gesundheitsbehörde, auferlegten Hausarrest auf. In den ersten Tagen in meinem vorübergehenden Zuhause habe ich mich immer wieder daran gemacht sie zu lesen. Manches ist hängen geblieben, obwohl mir die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen dadurch nicht erklärt wurde. Wörter, wie: Sicherheitsmaßnahmen, Vernachlässigung der gesellschaftlichen Verantwortungspflicht, Gefährdung des öffentlichen Interesses, Analyse des Gesundheitszustandes – regelmäßige Gesundheitschecks und Blutuntersuchungen…fielen des öfteren, gelb markiert durch einen fleißigen Beamten.

Diesen bürokratischen Jargon durchzukauen ist reine Quälerei. Aus Langeweile nutze ich die Einverständniserklärung mittlerweile als Kreuzworträtsel, alle Regeln der Grammatik missachtend: Ich nahm es hin – er diktierte, oktroyierte lässig; Die gESELlSCHAFT, wer unter such(t) Öffentlichkeit gefährdET; Antwort – Licht – entlich; Terese, mäßige und analysliche die Standesregel!

Mein Erlebnisradius ist maximal eingeschränkt.

Vom Wanderbett meines Sohnes (ineinander verschachtelte Kartonteile, die man ausgezogen als Matratzenauflage, sprich Bett, benutzen kann) bis zur „Küche“ sind es vier Schritte. Von der Küche zum Fenster, das ich weder öffnen noch kippen darf, sind es wiederum vier Schritte. Ein Stuhl und ein kleiner Tisch dienen den grundlegenden Bedürfnissen der Nahrungsaufnahme. Vom Fenster zum Tisch sind es vier Schritte, wenn ich kleinere Schritte mache, sogar sechs. Ich drehe meine Runden im Kreis, drei Mal am Tag steige ich die Treppen zum Badezimmer rauf und wieder runter.

Jeden Morgen, wenn ich aufstehe – durch den stetig wachsenden Bauchumfang und die dadurch einhergehende Überbelastung meiner Blase, habe ich mich mit der zuständigen Behörde darauf geeinigt, die Türe um 7:00 morgens erstmals zu öffnen, für den ersten meiner abgezählten Klogänge – liegt auf der Matte vor meiner Zimmertüre die Zeitung. Mittlerweile könnte ich die Artikel schon selbst schreiben, soviel Sich-Täglich-Wiederholendes steht darin geschrieben.

Erschreckend ist, wie sehr der Druck auf die Gesellschaft wächst. Keine Ausgabe ohne einen, meistens mehrere Artikel über Corona. Keine Ausgabe ohne Werbung für eine Impfung und Bildern von Sich-impfen-lassenden Politiker*innen. Keine Ausgabe ohne das moralische Auf- und Abwälzen einer Gesellschaft, die aufeinander schauen soll, sich aber eigentlich einen Dreck um die Anderen kümmert (das schreibt natürlich keiner so plakativ). Inhaltlich durchschaubar, stilistisch flach, keine erkennbare Handschrift der unterschiedlichen Journalist*innen. Eine Kopie desselben thematischen Duktus in jeder einzelnen Ausgabe…

Egal, viel wichtiger: zurück zu meinen Toilettengängen!

Auch wenn ich die Toilette alleine benutzen muss – meine Kinder und mein Mann dürfen in dieser Zeit das Badezimmer nicht benutzen, ich muss es auch desinfiziert hinterlassen – genieße ich meine zehn Minuten Morgenrhythmus mit der Geräuschkulisse einer intakten Familie, die sich früh morgens die ersten Geschwisterstreits liefert, Frühstücks-Diskussionen führt oder am Wochenende unerlaubterweise und auffallend leise Filme im Fernsehen ansieht.

Wenn ich punktgenau wieder in mein Zimmer komme und das Klicken der Türe hinter mir vernehme, steht mein Frühstück am Tisch. Mittlerweile empfinden ich das Klicken nicht mehr als feindselig. Man gewöhnt sich an alles, stumpft ab, nur um Unerträgliches ertragbar zu machen.

In den ersten Tagen waren kleine Briefe beigelegt, Zeichnungen deiner Geschwister, Nora, frisch gepflückte Blumen oder sonstige Aufmerksamkeiten. Diese werden mittlerweile seltener…ich fühle mich ein wenig vergessen…werde gefüttert, wie man ein Haustier füttert.

Nur du, Nora, gibst mir ein Gefühl, das Gefühl gebraucht zu werden, das Gefühl eines Miteinanders und nicht nur abgestellt zu sein…für ein paar Monate aus dem Verkehr gezogen wie ein altes Wrack…

Ich höre zu viel Radio, das tut meiner Seele schlecht, vor allem, weil zwischen den teilweise guten Songs zu viel Corona ist.

O-Ton der Moderatorin: „Mein Highlight des Tages, ich kriege heute meinen ersten Pfizer-Shot! Juhuu!“ – Jubel beider Moderatoren und Glückwünsche der Hörer*innen.

Werbung – Eins-zwei-drei-ich bin corona-frei

Werbung – Gehst impfen, dann geh‘ ich auch! Zwei Monate später treff‘ ma uns dann zhaus!

Halligalli in da hood – checkst?

Doch ohne Radio ist die Abwechslung noch geringer. Zwischendurch versinke ich in Bücherwelten oder starre einfach nur aus dem Fenster und sehe die Zeit vergehen. Der Herbst ist deutlich am Kommen, man sieht es an den Bäumen ringsum und daran, dass sich die Leute abends gerne mit Schals kleiden.

Mittags warte ich auf meine Kinder, wenn sie vom Kindergarten und von der Schule nach Hause kommen und an meinem Fenster vorbei gehen. Ich spreche in Zeichensprache mit ihnen. Ich habe angefangen online die Gebärdensprache zu lernen und bringe sie den Kinder durchs Fenster bei. Sich in Zeichensprache zu unterhalten dauert lange und kostet viel Nerven!

Dein Vater sieht immer müde aus, Nora. Manchmal höre ich ihn oben schreien und würde so gerne zu ihm gehen, um ihm mit den Kindern zu helfen. Manchmal sitzen die Kinder vor meiner Tür, klopfen, stampfen davor herum, zetern, brüllen und weinen über so viel Ungerechtigkeit in dieser Welt. Und ich kann ihnen nicht helfen. Nur mit Worten vertrösten, mit Briefen Streit schlichten, mit Türklopfen Spiele spielen…

Immer wieder kommt Gesundheitspersonal zu mir – in Vollmontur, weiß von oben bis unten mit Mundschutz, Plexiglas-Visier und zwei Paaren Handschuhen übereinander. Steril und unpersönlich. Sie kommen mindestens einmal in der Woche und nehmen Blutproben, machen Gesundheitschecks und stellen mir die immer gleichen Fragen: Geschmacksverlust? Herzrasen? Atemnot? Etc.

Manchmal lassen sie auch meine Hebamme zu mir. Die kommt immer kopfschüttelnd herein, sieht mich an, pendelt mich aus, macht ein trauriges Gesicht, spricht aufmunternd mit dir und mir, aber die Enttäuschung und Wut über meine Behandlung kann sie nicht überspielen.

Mir fehlt mittlerweile die Kraft. Wären wir doch weiter gekommen in den Bergen! Die nächste Hütte war nicht weit entfernt, wir hätten nur nicht die Ziege stehlen sollen. Vielleicht war das mein einziger Fehler…

Ich habe keinen Einfluss mehr darauf, was meinen Kindern jetzt im Dorf erzählt wird. Über mich, über die Krankheit, über die Toten, die auf mein Konto gehen – mir wurde die Zahl nie gesagt, vielleicht gibt es sie auch gar nicht und es war bloß ein Einschüchterungsversuch. Mittlerweile traue ich Inspektor Dougut auch das zu. Ob mein Fall überhaupt öffentlich besprochen wird? In der Zeitung lese ich nichts darüber. Gibt es mehrere, wie mich, die in Hausarrest versetzt wurden? Die regelmäßig getestet, denen Blutproben entnommen werden, sogar Plasmaspenden alle drei Wochen. Wozu? Ich bekomme keine Antwort von den Ärzten, wenn ich sie frage. Oder ich verstehe die Antwort nicht, durch Maske und Plexiglasscheibe hindurch.

Kann man sich daran gewöhnen Menschen mit Mund-Nasenmaske zu verstehen? Ich fürchte, schon…